Sprechstunde

Raul Krauthausen: „Nur durch Begegnungen werden Vorurteile abgebaut”

von Isabelle Diekmann
16.02.2023

Mangelnde Inklusion ist ein tief verankertes strukturelles Problem, das Soziale Gerechtigkeit und damit Chancengleichheit in unserer Gesellschaft unmöglich macht. Durch mangelnde Repräsentation kommen Menschen mit Behinderung nicht zu Wort und leben in einem Parallelsystem, das dringend aufgebrochen werden muss. Wir haben dazu mit Inklusions-Aktivist Raul Krauthausen gesprochen. Im Interview erzählt er uns von seiner ersten Diskriminierungserfahrung, den alltäglichen Barrieren, die Zugang zu machtvollen Positionen verhindern und seinen Forderungen an die Politik und die Mehrheitsgesellschaft.

Soziale Gerechtigkeit heißt: Jeder Mensch hat die gleiche Chance, Fähigkeiten und Talente zu entwickeln sowie Ziele und Wünsche zu erreichen. Alle starten an der gleichen Position. Welche Probleme nimmst du als Mensch mit Behinderung dabei war? In welchen Bereichen des Alltags wirst du sozial ungerecht behandelt?

Soziale Gerechtigkeit ist zwar ein schönes Konzept, an der Umsetzung mangelt es aber. Allein schon an den Zugangsbedingungen all dieser Orte, an denen zum Beispiel Talente ausgebildet werden und Ziele und Wünsche erreicht werden. Die wichtigsten Bildungseinrichtungen – von der Grundschule bis zur Hochschule – sind für behinderte Menschen überhaupt nicht ausgerichtet. Aber auch beim öffentlichen Personennahverkehr, beim Fliegen, bei Wohnungen, bei Veranstaltungen, Arztpraxen, Einkaufsläden, Restaurants  – überall komme ich nicht rein. 

Ich habe regelmäßig mit der Reisebegleitung der Deutschen Bahn zu kämpfen. Nur für die Aussonderung in Parallelsysteme und die Isolation stehen die Weichen genau richtig. Aber das ist eben genau das, was wir abschaffen müssen!

Wann und wo ist dir zum ersten Mal bewusst geworden, dass du eben nicht die gleichen Chancen hast wie Personen ohne Behinderung?

Tatsächlich habe ich erst recht spät gemerkt, dass ich diskriminiert werde. Meine Eltern haben mir glücklicherweise den Besuch auf der Regelschule ermöglichen können. Beim Spielen mit meinen Schulkamerad:innen ging es nie darum, ob ich eine Behinderung habe oder nicht, sondern darum, ob wir gemeinsam Spaß haben. In der Schule habe ich dieselben Erfahrungen gemacht wie viele andere auch – gute und schlechte Noten, beliebt sein oder unbeliebt sein, alles war wie bei vielen anderen Mitschüler:innen eben auch. Und so musste ich mir keine Gedanken machen, ob ich aufgrund meiner Behinderung andere Chancen habe. 

Erst als wir in der neunten Klasse in das Berufsinformationszentrum biz gegangen sind und meine Schulkamerad:innen ihre Berufswünsche nach Interessen wählen durften, während ich in einen Extraraum mit einem Mann geführt wurde, der mir die Werkstatt für behinderte Menschen zeigte, habe ich begriffen, dass ich wohl scheinbar nur sehr wenige Optionen haben werde. 

Wovon hängen die Chancen von behinderten Menschen vor allem ab? Was ist aus deiner Sicht der wichtigste Faktor, um die Welt für Menschen mit Behinderung gerechter zu machen?

Bei vielen hängt es davon ab, ob sich Eltern in eine Förderschule quatschen lassen und ihre Kinder dort hinschicken oder damit Erfolg haben, ihr Kind entgegen aller Widrigkeiten auf einer Regelschule unterzubringen. Durch eine gute Schulbildung sind wichtige Weichen schon gestellt. Doch dort hört der Kampf natürlich nicht auf. Es erfordert eine Menge Anstrengung und Durchsetzungsvermögen, auch außerhalb einer Werkstatt für behinderte Menschen, in der Arbeitswelt Fuß zu fassen.

Überall in unserer Gesellschaft – im Kinosaal, Restaurant, Geschäften, den Wohnungen unserer Freund:innen – gibt es Barrieren, die wahre Teilhabe letztendlich verhindern. Das System für behinderte Menschen existiert also außerhalb dieser Bereiche der Mehrheitsgesellschaft. Der erste Schritt ist eine gesetzlich verankerte Verpflichtung für Barrierefreiheit. Damit werden uns behinderten Menschen schon wichtige Teilhaberäume geöffnet, an denen Begegnung stattfinden kann. Nur durch die Begegnung werden Vorurteile abgebaut und weitere soziale Räume geöffnet.

Foto: Anna Spindelndreier

Bei Menschen mit Behinderung kommen oft noch weitere Dimensionen hinzu, wenn sie etwa von Armut betroffen sind, weiblich oder einen Migrationshintergrund haben. Wie kann Inklusion in Bezug auf soziale Gerechtigkeit intersektionaler gedacht werden?

Inklusion sollte heute nur noch intersektional gedacht werden. Denn dort, wo Leute mit einem bestimmten Diskriminierungsmerkmal aktiv eingeschlossen werden sollen, darf es eigentlich kein Ausschluss aufgrund eines anderen Vielfaltmerkmals geben. Ein wichtiger Schritt ist immer, sich mit den Erfahrungen und Bedürfnissen Betroffener auseinanderzusetzen und ihnen vor allem zu glauben. Dies kann sowohl durch autodidaktische Eigenrecherche, wissenschaftliche Sammlung von Daten und Forschung geschehen oder im persönlichen Kontakt eruiert werden.

Ich empfehle immer gerne Karen Catlins Newsletter “Better Allies”. Dort werden wöchentlich 5 Tipps gegeben, wie man sich als Verbündete:r von marginalisierten Gruppen bestmöglich verhält. Von ihr wird auch oft die intersektionale Perspektive berücksichtigt, also wirklich ein guter Ansatzpunkt. 

Was glaubst du, benötigt es, um annähernd soziale Gerechtigkeit herzustellen? Was können oder müssen wir tun, um deutlicher auf die Missstände hinzuweisen?

Betroffene müssen gehört werden und ihnen muss die Plattform gegeben werden, aus eigener Perspektive zu sprechen. Es gibt noch immer viel zu viele nicht-betroffene Menschen, die glauben, für marginalisierte Gruppen das Wort und die Debatte führen zu können. Die größten, gängigsten Wohlfahrtsverbände, die sich für die Belange behinderter Menschen einsetzen, sind ausschließlich von Menschen ohne Behinderung geführt.

Seit über 60 Jahren machen sie Kampagnen und Aufklärungsarbeit und noch immer sind behinderte Menschen nicht vom gesellschaftlichen Parallel- und Abstellgleis verschwunden. Es hat sich kaum etwas verbessert. Stattdessen sind Wohlfahrtsindustrien mächtige Wirtschaftsakteure geworden, die sich am Thema Behinderung bereichern. Der Fokus liegt einfach auf dem falschen Narrativ und orientiert sich an den falschen Interessen.

Darüber hinaus brauchen wir auch behinderte bzw. marginalisierte Menschen in den Positionen, die Einfluss auf gesamtgesellschaftliche, politische und juristische Entwicklungen nehmen können.

Wieso glaubst du, wird öffentlich selten über soziale Gerechtigkeit, vor allem im Zusammenhang mit behinderten Menschen, berichtet? Wie kann mehr Aufmerksamkeit auf dieses wichtige Thema gelenkt werden?

Behinderte Menschen haben keine einflussreiche Lobby. Dies rührt daher, dass behinderte Menschen gesellschaftlich in Parallelsysteme ausgesondert werden und im öffentlich-rechtlichen Raum kaum stattfinden.

Außerdem gibt es keine einheitliche Gruppe behinderter Menschen, obwohl wir die am schnellsten wachsende Minderheit sind. Jede Lebenssituation ist anders. Die Art, auf die man behindert wird, ist für jeden Menschen unterschiedlich. Deswegen ist es auch innerhalb der Behindertenbewegung schwierig, eine gemeinsame, starke Strömung zu bilden. Alle diese Faktoren machen es schwierig, überhaupt in die Öffentlichkeit zu gelangen und dort kraftvoll und vereint aufzutreten. 

In den Medien wird Behinderung als etwas Tragisches und Schlimmes oder ein Alltag mit einer Behinderung als inspirierend und heldenhaft dargestellt. Beides ist aber so nicht korrekt. Kürzlich haben wir in meinem Verein einen Themendienst eingeführt, auf der Website www.leidmedien.de können Journalist:innen Themen finden, die Menschen mit Behinderung wirklich tangieren. Vielleicht wäre das ein kleiner Anfang, wenn man journalistisch dort weitermachen möchte.

Portrait: Anna Spindelndreier

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