Mangelnde Inklusion ist ein tief verankertes strukturelles Problem, das Soziale Gerechtigkeit und damit Chancengleichheit in unserer Gesellschaft unmöglich macht. Durch mangelnde Repräsentation kommen Menschen mit Behinderung nicht zu Wort und leben in einem Parallelsystem, das dringend aufgebrochen werden muss. Wir haben dazu mit Inklusions-Aktivist Raul Krauthausen gesprochen. Im Interview erzählt er uns von seiner ersten Diskriminierungserfahrung, den alltäglichen Barrieren, die Zugang zu machtvollen Positionen verhindern und seinen Forderungen an die Politik und die Mehrheitsgesellschaft.
Soziale Gerechtigkeit heißt: Jeder Mensch hat die gleiche Chance, Fähigkeiten und Talente zu entwickeln sowie Ziele und Wünsche zu erreichen. Alle starten an der gleichen Position. Welche Probleme nimmst du als Mensch mit Behinderung dabei war? In welchen Bereichen des Alltags wirst du sozial ungerecht behandelt?
Soziale Gerechtigkeit ist zwar ein schönes Konzept, an der Umsetzung mangelt es aber. Allein schon an den Zugangsbedingungen all dieser Orte, an denen zum Beispiel Talente ausgebildet werden und Ziele und Wünsche erreicht werden. Die wichtigsten Bildungseinrichtungen – von der Grundschule bis zur Hochschule – sind für behinderte Menschen überhaupt nicht ausgerichtet. Aber auch beim öffentlichen Personennahverkehr, beim Fliegen, bei Wohnungen, bei Veranstaltungen, Arztpraxen, Einkaufsläden, Restaurants – überall komme ich nicht rein.
Ich habe regelmäßig mit der Reisebegleitung der Deutschen Bahn zu kämpfen. Nur für die Aussonderung in Parallelsysteme und die Isolation stehen die Weichen genau richtig. Aber das ist eben genau das, was wir abschaffen müssen!
Wann und wo ist dir zum ersten Mal bewusst geworden, dass du eben nicht die gleichen Chancen hast wie Personen ohne Behinderung?
Tatsächlich habe ich erst recht spät gemerkt, dass ich diskriminiert werde. Meine Eltern haben mir glücklicherweise den Besuch auf der Regelschule ermöglichen können. Beim Spielen mit meinen Schulkamerad:innen ging es nie darum, ob ich eine Behinderung habe oder nicht, sondern darum, ob wir gemeinsam Spaß haben. In der Schule habe ich dieselben Erfahrungen gemacht wie viele andere auch – gute und schlechte Noten, beliebt sein oder unbeliebt sein, alles war wie bei vielen anderen Mitschüler:innen eben auch. Und so musste ich mir keine Gedanken machen, ob ich aufgrund meiner Behinderung andere Chancen habe.
Erst als wir in der neunten Klasse in das Berufsinformationszentrum biz gegangen sind und meine Schulkamerad:innen ihre Berufswünsche nach Interessen wählen durften, während ich in einen Extraraum mit einem Mann geführt wurde, der mir die Werkstatt für behinderte Menschen zeigte, habe ich begriffen, dass ich wohl scheinbar nur sehr wenige Optionen haben werde.
Wovon hängen die Chancen von behinderten Menschen vor allem ab? Was ist aus deiner Sicht der wichtigste Faktor, um die Welt für Menschen mit Behinderung gerechter zu machen?
Bei vielen hängt es davon ab, ob sich Eltern in eine Förderschule quatschen lassen und ihre Kinder dort hinschicken oder damit Erfolg haben, ihr Kind entgegen aller Widrigkeiten auf einer Regelschule unterzubringen. Durch eine gute Schulbildung sind wichtige Weichen schon gestellt. Doch dort hört der Kampf natürlich nicht auf. Es erfordert eine Menge Anstrengung und Durchsetzungsvermögen, auch außerhalb einer Werkstatt für behinderte Menschen, in der Arbeitswelt Fuß zu fassen.
Überall in unserer Gesellschaft – im Kinosaal, Restaurant, Geschäften, den Wohnungen unserer Freund:innen – gibt es Barrieren, die wahre Teilhabe letztendlich verhindern. Das System für behinderte Menschen existiert also außerhalb dieser Bereiche der Mehrheitsgesellschaft. Der erste Schritt ist eine gesetzlich verankerte Verpflichtung für Barrierefreiheit. Damit werden uns behinderten Menschen schon wichtige Teilhaberäume geöffnet, an denen Begegnung stattfinden kann. Nur durch die Begegnung werden Vorurteile abgebaut und weitere soziale Räume geöffnet.