Stell dir vor, du nimmst an einem 800-Meter-Lauf teil: Wahrscheinlich willst du durch eine gute Leistung weit vorn mitlaufen und schnell ins Ziel kommen, denn das sind die Regeln des Sports. Du hörst überall: ‚Du kannst das aus eigener Kraft schaffen! Du allein bist deines Glückes Schmied!‘ Aber auf einmal stellst du fest: Die Läufer:innen starten nicht an der gleichen Linie: Manche starten hundert Meter vor, manche noch hinter dir. Wie sollst du den Vorsprung aufholen? Du versuchst es und kommst ganz gut voran. Dann merkst du, auf deiner Spur stehen Hindernisse, die andere nicht überwinden müssen. Am Ende fällst du zurück. Ist das gerecht? Hattest Du überhaupt eine faire Chance?
In der Gesellschaft geht es ähnlich zu. Obwohl unsere aufgeklärten und demokratischen Ansprüche Chancengleichheit und Gleichberechtigung versprechen, sind die Bedingungen für ein gutes Leben von Anfang an ungerecht verteilt. Der Zufall entscheidet, in welcher Region, in welcher Familie und sozialen Schicht, mit welcher geschlechtlichen Identität, mit welcher Hautfarbe oder mit welchen gesundheitlichen Bedingungen ein Mensch in das Leben startet. Auch später können Schicksalsschläge für Rückschläge sorgen: Unfälle, Krankheiten, Krisen, der Arbeitgeber geht pleite, Umweltkatastrophen oder gar Krieg. All das hängt nicht von der eigenen Leistung ab und es ist kein Verdienst, von Hindernissen verschont zu bleiben.