Sprechstunde

Sirkka Jendis: „Lebensmittelspenden müssen dringend vereinfacht werden“

von Isabelle Diekmann
27.01.2023

Aktuell gehen 2 Millionen armutsbetroffene Menschen in Deutschland regelmäßig zur Tafel, um an Ausgabestellen gespendete Lebensmittel zu bekommen. Gleichzeitig werden in Deutschland jährlich 12 - 18 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeschmissen. Wie können wir dazu beitragen, dass Nahrung besser verteilt wird und wirklich alle eine Chance auf eine gute Ernährung haben? Welche Rolle spielt Ernährungsbildung dabei? Wir haben mit der Geschäftsführerin der Tafel Deutschland, Sirkka Jendis, über Lebensmittelverschwendung in Deutschland und Visionen für eine gerechtere Verteilung gesprochen.

Wie viele Personen sind 2022 regelmäßig zur Tafel gekommen?

2022 haben die Tafeln in Deutschland etwa 2 Millionen armutsbetroffene Menschen mit Lebensmitteln unterstützt. Das sind so viele wie noch nie zuvor in unserer 30-jährigen Geschichte.

Inwiefern machen sich die aktuellen Krisen, wie bspw. der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise sowie die Auswirkungen der Pandemie bemerkbar?

Die aktuellen Krisen stellen viele Menschen vor große Probleme. Der Krieg in der Ukraine und die Preissteigerungen haben dafür gesorgt, dass viel mehr Menschen als zuvor Hilfe bei den Tafeln suchen. Im Vergleich zu 2021 haben die Tafeln im bundesweiten Durchschnitt einen Kundenanstieg von 50 Prozent verzeichnet. In einigen Tafeln hat sich die Nachfrage sogar verdoppelt. Inzwischen kommen auch Menschen zu den Tafeln, die einen Job haben und ihre Ausgaben vorher noch alleine stemmen konnten.

Sirkka Jendis, Geschäftsführung Tafel Deutschland | Foto: Navina Neuschl

Bekommen die Tafeln genügend Lebensmittel, um diesem Anstieg gerecht zu werden oder müssen Personen ohne Lebensmittel wieder nach Hause geschickt werden?

Gleichzeitig zur gestiegenen Nachfrage gingen 2022 Lebensmittelspenden von Supermärkten zurück. Der Rückgang ist auf zerstörte Lieferketten durch den Krieg zurückzuführen. Zudem kalkulieren Lebensmittelhändler mittlerweile oft anders, damit sie weniger Lebensmittel übrighaben. Die Tafeln können nur die Lebensmittel weitergeben, die sie gespendet bekommen. 32 Prozent der Tafeln mussten einen Aufnahmestopp einführen, andere Tafeln können die Ausgabe nur noch alle zwei Wochen stattfinden lassen, weil die Lebensmittel schlichtweg nicht mehr für alle reichen. Es gibt auch Tafeln, die die Ausgabemenge pro Person reduziert haben, damit sie weiterhin ihre Kund:innen unterstützen können. Dieser Einsatz ist kräftezehrend und belastet die Aktiven psychisch und physisch.

Es landen 12 - 18 Millionen Tonnen Lebensmittel in Deutschland jährlich im Müll – wie kann das sein?

Für die Lebensmittelverschwendung gibt es ganz viele Gründe. Verbraucher:innen verstehen oft das Mindesthaltbarkeitsdatum falsch und werfen Lebensmittel weg, ohne selbst zu prüfen, ob sie noch gut sind. In Privathaushalten verderben viele Lebensmittel, weil sie falsch gelagert oder in zu großen Mengen eingekauft wurden. Wenn Produzenten Waren mit fehlerhaften Etiketten bekleben, ist es häufig leichter, alles zu entsorgen, statt den Fehler zu korrigieren.

Lebensmittel werden oft aussortiert, wenn sie nicht dem optischen Idealbild entsprechen. Auch während der Ernte werden Erträge beschädigt, die sich nicht weiterverarbeiten lassen. Die Beispiele zeigen, dass Essen entlang der gesamten Wertschöpfungskette verloren geht.

Foto: Nikolaus Urban

Wie rettet die Tafel diese Lebensmittel? Welcher logistische und organisatorische Aufwand steckt dahinter und mit welchen Herausforderungen haben die Mitarbeiter:innen der Tafel dabei zu kämpfen?

Die Lebensmittelrettung durch die Tafeln ist eine logistische Meisterleistung: Eine Tafel fährt Supermärkte und andere Lebensmittelgeschäfte an, um gespendete Waren abzuholen, die nicht mehr verkauft werden können, obwohl sie qualitativ einwandfrei sind. Dazu zählen zum Beispiel Brot und Backwaren vom Vortag, Obst und Gemüse mit kleinen Schönheitsfehlern, Überproduktionen oder Lagerbestände mit nahendem Mindesthaltbarkeitsdatum. Unsere Helfer:innen prüfen die Lebensmittel auf ihre Qualität und sortieren aus, was nicht mehr gut ist. In den Tafel-Ausgabestellen verteilen sie sie an etwa zwei Millionen armutsbetroffene Menschen.

Welche Möglichkeiten hat jede:r Einzelne die Tafel zu unterstützen? Wo wird die meiste Hilfe benötigt? 

Es gibt viele Möglichkeiten, sich für die Tafel zu engagieren. Viele Tafeln suchen ehrenamtliche Unterstützung, sie freuen sich über Geld-, Sach- und Lebensmittelspenden. Wer bei der örtlichen Tafel nachfragt, erfährt, was gerade am meisten fehlt. Die Kontaktdaten der Tafeln finden Sie unter tafel.de/tafel-suche. Natürlich kann man auch ganz einfach unter tafel.de/jetzt-spenden spenden und damit die Tafel-Arbeit unterstützen. Wir freuen uns über jede Hilfe!

Foto: Nikolaus Urban

Ihr rettet 265.000 Tonnen Lebensmittel - wie können es noch mehr werden? Wie/wo seid ihr in eurer Arbeit begrenzt?

Die Tafeln würden gerne mehr Menschen mit Lebensmitteln unterstützen, sie stoßen aber aktuell an ihre Grenzen. Die Infrastruktur ist dabei natürlich ein großes Thema, sie muss weiter ausgebaut werden, damit noch mehr Lebensmittel direkt von den Herstellern gerettet werden können. Auch in die Kühlung und Lagerung von Lebensmitteln müsste weiter investiert werden. Dafür benötigen die Tafeln jedoch die entsprechenden finanziellen Mittel. Angesichts der aktuellen Krisen und der gestiegenen Nachfrage ist der Ausbau der Logistik enorm wichtig.

Im Mai 2022 habt ihr öffentlich ein Gesetz gegen die Lebensmittelverschwendung gefordert. Inwiefern spielt die Politik eine Rolle bei der Lebensmittelverschwendung und was ist seit eurer Forderung passiert?

Von der Bundesregierung fordern wir verbindliche gesetzliche Maßnahmen für Hersteller, den Lebensmittelhandel und Verbraucherinnen und Verbraucher. Dafür ist eine umfassende Bildungskampagne über Maßnahmen gegen Verschwendung nötig.

Lebensmittelspenden müssen rechtssicher sein sowie vereinfacht und steuerlich begünstigt werden – sowohl für Hersteller und Erzeuger wie auch für den Lebensmittelhandel. Um die notwendige Infrastruktur durch Lager und Transport bereitstellen und unterhalten zu können, fordern wir eine staatliche finanzielle Unterstützung.

Zu eurem Angebot zählen auch Koch- und Ernährungsbildungskurse. Wie wichtig sind diese Informationsveranstaltungen, worauf zielen sie ab? 

Eine gesunde und ausgewogene Ernährung ist enorm wichtig für die Gesundheit und das Wohlbefinden. Gerade wenn das Geld knapp wird, sparen viele Menschen bei ihrer Ernährung oder haben nicht die finanziellen Mittel, um sich gesund und ausgewogen zu ernähren. Einige Tafeln bieten verschiedene Ernährungsbildungsprojekte an. Im Rahmen des Projekts „Tafel is(s)t gesund und nachhaltig“ bieten Tafeln beispielsweise kostenfreie Seminare an, in denen gesunde Ernährung und neue Rezepte besprochen und umgesetzt werden.

Foto: Roman Mykhalchuk

Was kann getan werden, um dieses Wissen zu verbreiten? Wäre es aus eurer Sicht ratsam, solche Kurse bereits in der Schule für alle anzubieten?

Viele Tafeln arbeiten bereits mit Schulen zusammen, um Kindern und Jugendlichen ein gesundes Frühstück zu ermöglichen und zusätzlich die Ernährungsbildung und die Wertschätzung von Lebensmitteln zu stärken. Es braucht auch ein Umdenken hin zu mehr Wertschätzung von Lebensmitteln in der Gesellschaft. Wir fordern zum Beispiel, dass Ernährungsbildung wieder in Lehrpläne integriert wird, sodass Kinder von klein auf für das Thema sensibilisiert werden.

Hast du Tipps für den Alltag, um Lebensmittelverschwendung zu vermeiden? Wie können wir besser mit unseren Lebensmitteln umgehen?

Das MHD ist kein Verbrauchsdatum! Prüfen Sie Lebensmittel mit Ihren Sinnen, bevor Sie sie wegschmeißen. Kaufen Sie nur das ein, was Sie wirklich brauchen und gehen Sie nicht hungrig einkaufen. Werden Sie kreativ mit Lebensmittelresten, anstatt sie sofort wegzuwerfen. Googeln Sie zum Beispiel das übrig gebliebene Lebensmittel mit „+Rezept“ zur Inspiration für kreatives Reste-Essen. Wichtig ist es auch, Lebensmittel richtig zu lagern, z. B. Beeren ungewaschen, Mango und Kartoffeln nicht im Kühlschrank, Bananen nicht neben anderem Obst.

Titelbild: Reiner Pfisterer

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