Sprechstunde

Marcus Stelter: „Unser Anliegen ist es, Lebensmittel sinnvoll umzuverteilen”

von Oxana Trebruch, Isabell Heimberger
07.04.2023

Die Berliner Tafel ist einer unserer Partner der ersten Stunde. Doch wie genau funktioniert die Ausgabe der Lebensmittel, also der Prozess, den die meisten Menschen mit der Tafel verbinden? Um uns einen genaueren Überblick über die Lebensmittelrettung und -umverteilung in Berlin zu verschaffen, haben wir für unseren aktuellen Impact Report 2022 mit Marcus Stelter – dem Leiter der LAIB und SEELE Koordinationsstelle der Berliner Tafel – gesprochen. Er erzählt uns, vor welchen Herausforderungen die Berliner Tafel aktuell steht, welche Bedeutung die Tafel für die Menschen hat und welche Rolle der Staat spielen muss, um die Situation der Versorgung langfristig zu verbessern.

Lieber Marcus, was ist deine persönliche Motivation, für die Tafel zu arbeiten? 

Im Wesentlichen sind es zwei Dinge, die mich motivieren. Zum einen etwas gegen die Lebensmittelverschwendung zu unternehmen und dann die Möglichkeit, Menschen in Not helfen zu können – eben etwas Sinnvolles zu machen.

Erzähl uns doch zunächst, welche Bereiche du bei der Berliner Tafel betreust und wie dein Alltag hier aussieht. 

Ich arbeite im LAIB und SEELE-Koordinationsbüro. Das ist sozusagen die Schalt- und Schnittstelle zwischen den 47 LAIB und SEELE-Ausgabestellen und der Berliner Tafel. Die LAIB und SEELE-Ausgabestellen sind das, was man klassischerweise mit der Berliner Tafel verbindet. Es sind die Orte, an denen armutsbetroffene Menschen Lebensmittel für ihren privaten Haushalt abholen können. In kleineren Städten können Menschen hierfür zu einer zentralen Tafelausgabestelle gehen da Berlin aber so groß ist, reicht ein Ort nicht aus. Um stadtweit helfen zu können, haben wir die Kirchen mit eingebunden. Kirchen sind in allen Kiezen präsent und ermöglichen so eine dezentrale wohnortnahe Unterstützung der Bedürftigen.

LAIB und SEELE ist ja nur eine Säule der Berliner Tafel, kannst du uns die anderen beiden erläutern? 

Beim klassischen Bereich der Berliner Tafel werden Lebensmittel an 400 soziale Einrichtungen verteilt, beispielsweise Obdachlosenunterkünfte, die Bahnhofs- und Stadtmissionen, Frauenhäuser oder Drogennotdienste. Und dann gibt es noch das Kinder- und Jugendprojekt KIMBA, das Wertschätzung für Lebensmittel und gesunde Ernährung vermittelt.

Die Tafel funktioniert nur durch den unermüdlichen Einsatz von Ehrenamtlichen. Was sind da die größten Herausforderungen bei der Tafelarbeit? 

In den Ausgabestellen besteht die größte Herausforderung in den langen Tagen. Die ersten Ehrenamtlichen kommen zwischen sieben und acht Uhr. Das sind die Fahrer:innen, die dann die Supermärkte anfahren. Die bringen den ersten Schwung Ware zu den Ausgabestellen, wo die Lebensmittel empfangen und sortiert werden. Denn die Spenden sind wild durchmischt – Salat neben Joghurt, neben Bananen, neben Apfelsinen. Die Ehrenamtlichen machen sortenreine Kisten daraus. Währenddessen fährt das Auto noch weitere Runden zu den Supermärkten und der Sortierhalle der Berliner Tafel. Das Ganze geht bis 13 Uhr. Oft gibt es dann eine kurze Pause, um zur Ruhe zu kommen, bevor die Ausgabe beginnt. Die Ausgabe kann man sich so vorstellen: Es wird eine Ladenstraße aufgebaut mit einer Station mit Kartoffeln, einer Station mit Paprika und so weiter. Hinter jeder Station steht ein:e Ehrenamtliche:r, und die geben dann die Lebensmittel aus. Die Kund:innen gehen durch, sagen, was sie gerne hätten und je nachdem, wie viel von den Lebensmitteln da ist, werden sie ausgegeben. Die gesamte Ausgabe dauert in etwa 2 Stunden. Aber dadurch, dass immer mehr Menschen zu uns kommen, dauert es auch mal länger. Danach wird aufgeräumt. Die Räume, die von den Kirchen zur Verfügung gestellt werden, müssen natürlich gereinigt werden. Dann ist es irgendwann 17 Uhr und die Ehrenamtlichen gehen nach einem langen und körperlich anstrengenden Tag nach Hause.

Was sind das für Menschen, die sich ehrenamtlich in den Ausgabestellen engagieren? 

In den Ausgabestellen helfen ganz oft Ruheständler:innen, weil sie Zeit haben. Denn die Lebensmittelausgabe findet unter der Woche statt, zu Zeiten, wo die allermeisten Menschen arbeiten. Teilweise helfen auch Menschen, die selbst Sozialleistungen beziehen. Für viele spielt der innere Impuls eine große Rolle, etwas zurückzugeben.

Wie wurde das Ganze auf menschlicher Ebene wahrgenommen? 

Wir haben viele Tafelkund:innen, die jede Woche kommen. Man kennt sich. Die Ehrenamtlichen wissen, ob Kinder zu Hause sind, ob Haustiere da sind, ob die Familie verreist ist, wer krank ist. Es ist wirklich ein sozialer Raum. LAIB und SEELE eben und wenn man die Kund:innen kennt und denen dann sagen muss: „So, jetzt könnt ihr nur noch alle zwei Wochen kommen“ – das ist nicht leicht. Es gibt auch viele Ausgabestellen, die trotz der Anstrengungen aus genau diesem Grund sagen: „Nein, wir machen nicht 14-tägig“, was ich auch gut nachvollziehen kann, weil es eben schwierig ist. Bei anderen ist der Druck aber so groß, dass sie sich nicht anders zu helfen wissen, aber niemand macht das gerne.

Viele Menschen sind auf die Unterstützung der Tafeln angewiesen. Was denkst du, sollte das so sein? 

Unser Anliegen ist es, Lebensmittel zu retten und sinnvoll umzuverteilen. Der zentrale Grundsatz dabei ist, dass wir armutsbetroffene Menschen unterstützen und nicht versorgen.

Wer kann Unterstützung von der Tafel bekommen? 

Menschen, die Transferleistungen bekommen, können Lebensmittel von uns erhalten. Das heißt also, Bürgergeld-, Wohngeld-, Grundsicherungsempfänger:innen und auch BAföG-Empfänger:innen. Es können aber auch Menschen mit geringem Einkommen zu uns kommen. Das Einkommen und die Bescheide werden direkt in den Ausgabestellen geprüft. 

Armutsbetroffene Menschen erhalten dann eine Kundenkarte, mit der sie Lebensmittel abholen können. 

Wie blickst du auf das neue Jahr? 

Wir arbeiten intensiv daran, unser Netz der Ausgabestellen zu erweitern. Mein Wunsch wäre, dass wir mehr Ausgabestellen eröffnen, zu denen die Menschen kommen können, um ihre Lebensmittel abzuholen. Die Pop-up Ausgabestellen, an denen wir vorgepackte Tüten verteilen, sind eine gute Zwischenlösung, aber nichts für immer.

share Impact Report 2022

Das komplette Interview mit der Berliner Tafel, weitere Hintergrundstories zu unseren Projekten, exklusive Einblicke hinter die Kulissen und alles zu unseren gemeinsamen Erfolgen findest du zum Nachlesen im neuen share Impact Report!

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